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Kiernan »Erde und Blut«, Goldhagen »Schlimmer als Krieg«

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Gleich zwei beachtenswerte Publikationen des letzten Jahres beschäftigen sich mit Historie und Genese des Völkermords, und geben der deutschsprachigen Leserschaft exemplarischen Einblick in das, was in den im internationalen Rahmen bereits weiter verbreiteten vergleichenden Genocide-Studies möglich ist.

Ben Kiernan legt mit seiner 2007 erschienen und nun ins Deutsche übertragenen Studie »Erde und Blut« (Der an die NS-Ideologie angelehnte Originaltitel »Blood and Soil« findet sich somit in der deutschen Fassung nicht mehr) eine Archäologie der bevölkerungsgruppenbezogenen Gewalt vor. »Am Anfang der Welt« so leitet Kiernan seine Arbeit mit einem Zitat des Jesuiten Manuel de Nobrega ein, »war nur Mord und Totschlag«. Dennoch beginnt Kiernan den Bogen der systematischen Darstellung erst mit den ‚frühen imperialen Expansionen’ der Neuzeit und spannt ihn über den Siedlerkolonialismus in Irland, Nordamerika, und Australien bis hin zu den Genoziden des 20. Jahrhunderts an Armeniern und europäischen Juden, sowie den Massenmorden in Kambodscha und Ruanda. Kurz gesagt: hier wird eine negative Globalgeschichte par Excellence entworfen. Die Kapitelfolge ist chronologisch geordnet, differenzierende Vergleiche zwischen einzelnen Genoziden und ihren Ideologien, möglich wären etwa Nationalsozialismus, Maoismus, Stalinismus oder Islamismus, scheut der Autor dabei allerdings weitgehend. Kiernan geht größtenteils deskriptiv vor, eine fundierte Analyse findet sich kaum. Lediglich in der Einleitung stellt er seine Kernthese auf, was dann folgt dient der Untermauerung seines Unterfangens: der Erklärung ethnischer Gewalt aus dem Ursprung von Territorial‑ und Agrarideologie und romantisierender Rezeption der Antike und im 20. Jahrhundert vor allem vor dem Hintergrund des Übergangs von Agrar‑ zu Industriekultur und imperialer Eroberungen. Die Verklärung der Antike findet sich in Hitlers Idealisierung Spartas ebenso wie in der Gleichsetzung von irischen oder walisischen Untertanen mit skytheischen Barbaren durch englische Kolonisten. Der Wunsch nach Wiederkunft des Garten Eden war für die spanischen und englischen Eroberer ebenso wie für Al-Quaida pastorales Idyll. Der Ackerbau wurde zum Symbol und zur modernen Inkarnation der verlorenen früheren Macht und Reinheit, weswegen beispielsweise die Roten Khmer Hinduismus und Buddhismus als Verhunzungen ihrer ursprünglichen reinen Kultur bekämpften.

Kiernan erläutert, wie die alttestamentarische Wertschätzung von Boden und Ackerbau und die gleichzeitige Geringschätzung des Sklaven später in rassistische Zuschreibungen gegenüber Schwarzafrikanern und Ureinwohnern Amerikas übersetzt wurde und durch technische Entwicklung und koloniale Konfrontation zur Triebfeder von quantitativ ausgedehnten Genoziden werden konnte. Jedoch beschränkt er die Bereitschaft gruppenbezogene Gewalt auszuüben nicht auf die Seite weißer und westlicher Usurpatoren. Im Gegenteil: er zeigt diese ebenso als Konstante bei ‚Indianern’, ‚Aborigines’ und ‚wilden Schwarzen’ und umgeht damit jede Fallschlinge kulturalistischer Zuschreibungen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen umfassend und informativ, wenn der Leser der Thematik mit relativer Unkenntnis gegenübertritt, wie der Rezensent beispielsweise der genozidalen Gewalt während der Kolonisierung Australiens oder der Geschichte des japanischen Militarismus unter der Kirschblütenherrschaft. Hier etwa findet sich eine stringente und materialreiche Darstellung und Charakterisierung des »genozidalen Gedankens« des japanischen Gemeinwesens durch Idealisierung der Bauern, Ackerbau und Boden. Die Urbanisierung ländlicher Regionen Japans im 19. Jahrhundert führte zur Verbreitung der »Agrarideologie«, einer Verklärung von Klein‑ und Freibauern. Nationalkulturelle Spezifika finden sich in diesem Beispiel gruppiert um die spiritualistische »ritterliche Moral« (bushido) und auch konfuzianische Elemente der antiindustriellen Bedeutungsaufladung des Bodens als »Wurzel« des Handels und des Staats. Zeitlich ging die Entfesselung dieses Prozesses einher mit der vor allem agrarischen Expansion Japans in die Mandschurei und der Konfrontation mit Korea, Taiwan und Russland und anderen Nationen. Die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses, äußeren Spannungen und innerem Druck durch Bevölkerungswachstum, konnte für Japan nur unter den Begriffen von »Rasse«, »Boden« und »Nation« überwunden werden und führte 1937 zur Durchsetzung einer neuen Form des nationalen Gemeinwesens unter Ministerpräsident Fumimaro und dem Beginns des Krieges gegen China. Damit begann die systematische Ermordung und Umsiedlung von Chinesen zugunsten der Sicherung von Lebensraum der japanischen »Yamato-Rasse«. Die finale Niederlage gegen die US-Truppen auf der Pazifikinsel Okinawa sollte schließlich nichts von der gescheiterten Nation übriglassen. Zehntausende japanische Zivilisten wurden zum Massenselbstmord gezwungen.

Die englischen Siedler Australiens begegneten den »Aborigines« verblüfft mit der Feststellung, dass diese gar keinen Feldbau kannten und zudem darüber »glücklich in ihrem Unwissen« waren, wie James Cook schrieb. Dies führte dazu, dass in den Augen der Kolonisatoren ihnen auf den Boden auf dem sie lebten, den sie jedoch nicht in deren Sinne bewirtschafteten, kein Recht zustand. Interessant daran ist, dass den Aborigines keine Vernichtungsideologie entgegengebracht wurde: die britische Regierung verfügte sogar den »vorteilhaften Umgang mit den Eingeborenen«, verbunden mit dem Wunsch der Umerziehung in bodenbewirtschaftende Bauern, also der Anpassung an die Siedlergemeinschaft. Trotzdem entwickelte sich eine genozidale Dynamik, in deren Verlauf es durchaus zu gegenseitigen Massakern kam. Die Folge waren Landnahmekonflikte, die ihren Antrieb auch in einer romantisierenden Antikerezeption der Siedler fanden.

Im weitgehend agrarisch geprägten Russland konnte mit der Revolution der Bolschewiki kaum von einer ideologischen Überhöhung des Landlebens gesprochen werden. Hier stehen Zwangskollektivierung und Modernisierung der Landwirtschaft im Interesse Kiernans, und er stellt fest, dass gerade die sowjetische Modernisierungsdiktatur in bezug auf seine Genozidthese der Sonderfall der Geschichte ist, da diese die Landwirtschaft und das damit verbundene Kulakentum in der traditionellen Form bekämpfte. Kein Sonderfall der Geschichte dagegen war das üblicherweise unterschätzte ethnische und nationalchauvinistische Moment in der Politik Stalins, welches sich nicht nur antiukrainisch und antipolnisch gebärdete, sondern vor allem ab 1938 häufig in massenhafter Verfolgung nicht-russischer Bevölkerungsteile endete: Der Vielvölkerstaat war nicht vor der Möglichkeit ethnischer Verfolgung gefeit, dass in ihm ethnische Verfolgung möglich wurde. Trotz des wichtigen Hinweises auf diese Tatsache, ist hier Kiernans Darstellung nicht präzise genug, und er scheitert daran deutlich zu machen, ob und worin Unterschiede zu völkischer Ideologie, wie sie zeitgleich in Deutschland oder Japan grassierte, bestanden und warum genau Strafmaßnahmen sich auch in der Sowjetunion an ethnischen Kriterien orientierten. Auch zur Genese antisemitischer Pogrome findet sich leider wenig. Die Millionen Toten des Prozesses der Bolschewisierung durch Hunger oder Krankheit werden von Kiernan immer als eine Form Kollateralschäden verzeichnet, aber zum Glück nicht nach Maßstäben die das »Schwarzbuch des Kommunismus« unter der Rubrik des Genozids verbucht.

Der Agrarkommunismus der Kommunistischen Partei Chinas dagegen setzte wiederum auf die Macht der Bauern, in der agraridealisierenden Darstellung des japanischen Putschisten Kozaburo errang diese ihren Sieg über die chinesische Militärclique gerade, »weil diese eine Armee der Bauern war«. Tatsächlich gab es in China weit mehr Bauern als in der Sowjetunion und diese waren wesentlich stärkerer wirtschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt, sodass diese hier die einzige mögliche revolutionäre Kraft darstellten.

Ähnlich wie Goldhagen in seinem anschließend vorgestellten Buch sieht Kiernan den Genozid des 21. Jahrhunderts in erster Linie in islamistischen Phänomenen wie Al-Qaida oder den Dschandschawid-Milizen im Sudan. Ethnoreligiöser Fanatismus verbindet sich hier mit territorialem Expansionismus unter verklärender Bezugnahme auf die Eroberungen frühislamischer Feldherren. Vor den Anschlägen in Madrid wähnten sich die Attentäter, wie Tonbandaufnahmen belegen, vor den Toren des antiken Roms, das sie niederringen wollten. Bezeichnenderweise war Al-Qaida in den 90er Jahren im Sudan im wesentlichen eine landwirtschaftliche Bewegung und betrieb Ackerbau und Viehzucht. Dass Islamismus keine antikoloniale Bewegung ist, kann gerade in gegenwärtigen politischen Diskussionen nicht oft genug betont werden. Kiernan steht mit seiner These des genuin imperialistischen Charakters islamistischer Bewegungen in einer Reihe mit Goldhagen und natürlich Efraim Karsh, dessen Werk »Imperialismus im Namen Allahs« (München 2007) an dieser Stelle dem Leser ans Herz gelegt sei.

Doch was hält ein derartig breites Panorama auf immerhin nur knapp 900 Seiten zusammen und welche Teile des teilweise penibel aneinandergereihten Materials lassen sich mit Gewinn lesen? Leider werden beide Fragen mit wenig beantwortet werden müssen.

Kiernan arbeitet in jedem Kapitel auf seine bereits erwähnte Kernthese hin, er breitet sie nicht aus. Dadurch entstehen Durstrecken, die nur noch anstrengender zu lesen werden, wenn nicht klar wird, warum einzelne Kapitel deutliche Unterschiede in Systematik und Gründlichkeit erkennen lassen. Während der antichinesische Krieg Japans in Sätzen abgehandelt wird werden immer gleiche Konfliktschemata der englischen Expansion in Australien über zig Seiten wieder und wieder detailliert aufgezählt. Teilweise geht er auch gar nicht mehr auf seine Ausgangsthese ein und es finden sich rein deskriptive Darstellungen der historischen Entwicklung von Kontexten, in denen genozidale Handlungen vollzogen wurden. So nimmt sich Kiernan für seine Darstellungen zu China sehr viel Raum, um diverse Personalia der KPCh zu vorzustellen oder Erntezahlen und Produktionsziele zu erklären. Am Ende bleibt nicht viel mehr übrig als ein Einführung in die Geschichte des chinesischen Kommunismus – eine Charakterisierung der spezifischen Gewaltformen ist es aber nicht. Dies sind Schwächen, die den geneigten Leser jedoch nicht abschrecken müssen, die Zusammenschau der Materialfülle durchaus mit Gewinn zu lesen. Aufmerksamkeit für Vergleiche und Schlussfolgerungen muss man jedoch mitbringen, denn sie liefert Kiernan zu selten. Trotz des umfangreichen Materials ist es also wenig was Kiernans Werk zusammenhält. Zu mehr ist seine Kernthese nicht innovativ genug und bisweilen auch unpassend. Zur Erkenntnis, dass Nationalismus und Territorialkonflikte, die mit Bevölkerungstransfer und kolonialer Exploitation einhergehen, zu genozidalen Konfliktmustern führen, hätte es Kiernans Hinweis nicht bedurft. Antikerezeption und Agrarideologie konsistent nachzuzeichnen misslingt ihm spätestens bei der Darstellung der Genozide des 20. Jahrhunderts. Da Kiernan sich explizit nicht auf die Kolonialstrategien des christlichen Westens beschränkt verstanden wissen will, sondern sich ebenso mit innerasiatisch ablaufenden Konflikte auseinandersetzt, ist es nicht plausibel, warum gerade Antikerezeption und alttestamentarische Konstellationen als Grundmuster der Agrarideologie und des Expansionismus herangezogen werden. Man könnte Kiernan hier ironisch einen gewissen Eurozentrismus vorwerfen.

Außerdem liest es sich zwar noch plausibel aber nicht erschöpfend dargelegt, dass der Nationalsozialismus (übrigens eines der Kapitel in denen auf chronologische Akribie verzichtet wurde) vor allem in Hinblick auf die Beweisführung der »Blut und Boden«-These plus romantisierender Antikerezeption geschildert wird. Hierbei entsteht zwar nicht der Verdacht einer reduktionistischen Darstellung des Nationalsozialismus, die zentrale Elemente seiner Ideologie ausblenden würde. Es hat aber doch den Anschein, als würden Umfang und Detailtreue der Darstellung allein durch Beweisführung zugunsten der Arbeitsthese des Autors motiviert. Unklarheit bleibt nach der Lektüre auch darüber bestehen, ob er Genozid nun als Moment von Modernisierung oder einer permanenten Antimoderne versteht. Unter Inkonsistenzen dieser Art leidet dann, was eigentlich der einzige Nutzen von »Erde und Blut« sein könnte: eine universelle Archäologie des Genozids zu liefern. Während »Schlimmer als Krieg« von Goldhagen politischen Gebrauchswert beansprucht, will Kiernan allenfalls das Feld für derartiges vorbereiten. »Prävention des Genozids durch UN-Soldaten« wie er schlicht postuliert, könne nur gelingen wenn »Prognosen über wahrscheinliche Ausbrüche (…) und vorrausschauendes Verständnis gemeinsamer Merkmale von Genoziden« vorhanden sind.

An diesem Punkt knüpft dann Goldhagen mit »Schlimmer als Krieg« an. Die nüchterne Unbedarftheit mit der er ans Werk geht, hat schon bei einigen Rezensenten – darunter prominente Vertreter wie Harald Welzer in der Zeit oder Wolfgang Wipperman in der Jungle World – für Turbulenzen gesorgt. Sein Buch stieß bisher fast ausschließlich auf Ablehnung. Goldhagen geht nicht wie Kiernan chronologisch, sondern vergleichend vor. Harry Truman, als Verantwortlicher für die amerikanischen Atombombenabwürfe ist so neben Hitler, Stalin und Co. als Kandidat seiner vergleichenden Studie über Völkermord zu finden, die abschließend in einem rührenden Plädoyer für eine neue Form internationalen anti-eliminatorischen Engagements endet. Ein Skandal beziehungsweise altbackener Relativismus also, wie die ersten Besprechungen verlautbaren lassen? Keineswegs, wie zu zeigen ist.

Mit seiner Einführung des an »Hitlers willige Vollstrecker« angelehnten Begriffs des »politischen Eliminationismus« definiert Goldhagen seinen Gegenstand und distanziert sich gleichzeitig davon, nur von einem homologen Phänomen zu reden. Vielmehr spürt er dem »Eliminationismus« in verschiedenen historischen Phänomenen nach, die sich in fünf Hauptformen gliedere: Transformation (Konversion), Unterdrückung, Vertreibung, Reproduktionsverhinderung und Vernichtung, die sich gegen sämtliche Dimensionen der gegnerischen sozialen Identität richteten. Oftmals bestehe eine enge Verbindung zwischen diesen Hauptformen, jedoch zeichne sich die jeweilige Spezifik durch die unterschiedlichen Ausmaße dieser Einzelaspekte aus. »Eliminationismus« richte sich nicht allein gegen »Volksgruppen« wie der deutsche Begriff des »Völkermords« den Schein erweckt, sondern auch gegen politische Gruppen wie Kommunisten oder Kulaken. Beim »Eliminationismus« handelt es sich nicht notwendigerweise um Geschehnisse in der Größenordnung von Massenmorden, und der ist Begriff ist, wie die fünf Aspekte zeigen, auch nicht an den Akt des Mordens gebunden. Eliminationistisch handelte Truman ebenso wie Hitler oder die Roten Khmer, weil, so Goldhagen, derjenige eliminatorisch handelt, dessen Handlungen nicht bei militärischen oder Guerillaaktionen gegen militärische Einrichtungen, Streitkräfte oder Produktionsstätten Wirkung tragen. »Wenn Hitler und Truman nicht gleich zu beurteilen sind, dann können auch ihre Taten, so der falsche Rückschluss, nicht dasselbe sein«. Diese Feststellung bedeutet für Goldhagen nicht weniger, als das Wesen der Taten dennoch definitorisch und moralisch als grundverschieden anzusehen. Wenn auch Truman als provokant gewähltes Beispiel verbucht werden kann, macht Goldhagens Vorgehen ansonsten durchaus Sinn und ist weit davon entfernt Gleichmacherei zu betreiben. Völkermord entstehe weder durch äußere Bestimmtheit noch aus einer möglichen anthropologischen Konstante der Gewaltbereitschaft. Eher müsste man sich die Frage stellen, warum einige Menschen in einer Situation töten, andere jedoch nicht (Diese letztlich individualisierende Betrachtungsweise macht später dann auch Goldhagens Eintreten für eine globale Menschenrechtsjustiz neuen Typus verstehbar, in der konkreten Tätergemeinschaften eine besondere Rolle beigemessen wird).

Kulturelle Spezifika seien demnach erste Hinweise zur Genese eliminatorischer Bedingungen, welche sich meist gegen Gruppen richten die »im Ruf stehen, dem Wohl der Mehrheit oder dem einer mächtigen Minderheit abträglich zu sein«. Der transformative Charakter des modernen Staates und moderner Staatswerdung sowie historisch beispielslose Machkonzentrationen führten zudem zu entsprechenden Dynamisierungen des Eliminationismus. Im Gegensatz zu Kiernan beginnt das »Zeitalter der Massaker« für Goldhagen erst mit dem Vorgehen der deutschen Kolonialisten gegen die Herero 1904. Er begründet dies unter anderem damit, dass sich moderne Masseneliminierungen häufig innerhalb der Grenzen eines Landes abspielten. Land der Täter und Opfer seien meist identisch, eliminatorische Handlungen dienten eher der Umgestaltung von Gesellschaften als imperialistischer Expansion wie in den vorherigen Jahrhunderten. Kiernans Konstante ist dagegen der expansive Charakter. Der Krieg an sich sei dabei allerdings nicht notwendige Bedingung oder Ursprung des Eliminationismus, allenfalls würden in dessen Zuge eliminatorische Praxen durchsetzbar und »notwendig«. Es kann vorweg schon festgehalten werden: einen funktionierenden ultimativen Erklärungsansatz hat Goldhagen so wenig wie Kiernan. Auch ist seine Argumentation immer wieder uneinheitlich. Führt er wie eben genannt einerseits das transformative Potenzial des modernen Staates ins Feld, so spricht Goldhagen sich kurz darauf gegen den Reduktionismus staatszentristischer Auffassungen aus. Solcherlei Beispiele gibt es viele und man kann Goldhagen zugute halten, neben seiner Begriffsschöpfung des Eliminationimus sich nicht auch noch, wie Kiernan, an einer finalen Erklärung aller Mordphänomene zu verheben.

In dem Abschnitt »Warum sie anfangen« stellt Goldhagen dar, wie es von der notwendigen Bereitschaft zum Eliminationismus zur Ausführung kommt. Dieser ist oft auf wenige Entscheidungen einiger weniger Entscheidungsträger zurückzuführen und nicht das Ergebnis alleiniger Ideologie oder Strukturen: Ohne das Programm der NS-Eliten hätte der Antisemitismus der Deutschen nicht zum millionenfachen Judenmord führen können. Der Vernichtungsversuch an den Armeniern war auf vergleichbare Weise ein Werk sorgfältiger Planung und Abwägungen des türkischen »Zentralkomitees für Einheit und Fortschritt«. Pol Pot entschied und verkündete die Richtlinien seines persönlichen Vernichtungsprogramms auf einer entscheidenden Konferenz. Die Umsiedlungen von über 1,5 Millionen Menschen aus »Rebellengebieten« mit ihren katastrophalen Folgen in Äthiopien 1984 waren persönlicher Plan von Staatschef Mengistu Haile Mariam. In »Wie sie durchgeführt werden« stellt Goldhagen dar, dass eliminatorische Maßnahmen aber keine »Führerprogramme« sein können und umfangreiche logistischer, institutioneller und menschlicher Ressourcen, kurz: der Zustimmung eines Kollektivs bedürfen. Spontane Eliminierungen großen Ausmaßes waren Ausnahmen: Die Reihenfolge von Elitenmord zu übergreifenden Vernichtungsmaßnahmen waren sowohl von Nationalsozialisten, Roten Khmer, als auch von Türken und Hutu von langer Hand geplant. Die enormen Zahlen an Tätern die an großdimensionierten Eliminationsprogrammen, ob in Bosnien, Ruanda oder Deutschland beteiligt waren, legt für Goldhagen auch die Unmöglichkeit des Zwanges nahe, sich an entsprechenden Maßnahmen zu beteiligen. Doch was ist es dann, das die Täter zum Handeln bewegt?

Wichtig sei die Einsicht in ein exklusives zugrundeliegendes Rationalitätsprinzip, auf das sich die Beteiligten verständigen können: Wiederherstellung von Ordnung und Stabilisierung der zerrütteten Gesellschaft wie in der Türkei, Prävention angeblicher Verschwörungen wie in Ruanda oder wie im exemplarischen Fall des deutschen Polizeibataillons 101, das von seinem Major Wilhelm Trapp auf die anstehende Vernichtung der Juden von Jozefow mit dem kruden Argument vorbereitet wurde, der Heimat drohe die Bombardierung und so den noch furchtsamen Männern einen ‚vernünftigen‘ Grund für ihr anschließendes Handeln nahelegte. Goldhagen ist sich sicher, dass ein »Terrorstaat« der Zwangsmaßnahmen ohne weitgehende Zustimmung ausübt, nicht dazu im Stande ist, den organisatorischen Aufwand eines Eliminationsprojekts vollbringen zu können und illustriert dies mit zahlreichen Beispielen an den britischen Kolonialtruppen in Kenia, an Guatemala, Serbien und Darfur. Entscheidend für das Verständnis des eigentlichen Anliegens von »Schlimmer als Krieg« das sich in dem Untertitel »Wie Völkermord zu verhindern ist« ankündigt, ist die Lektüre des Kapitels »Warum Sie enden«. Goldhagen zeigt eine Kontinuität der erfolgreichen politischen Einmischung von Staaten in die Angelegenheiten anderer Staaten, früher durch Eroberung und Kolonialisierung, gegenwärtig weit häufiger durch interdependente Prozesse von Wirtschaft, Staatenbündnissen und Rechtsnormen. Dies ermutigt ihn zu der These, dass somit Menschenrechtsinterventionismus grundsätzlich erfolgreich sein kann. Die tendenziell ablehnende Aufnahme von »Schlimmer als Krieg« im deutschen Feuilleton, ist auf dem Stand ihrer bisherigen Argumentation eher aufgeregt und inhaltsleer als begründet.

Jan Süselbeck schrieb in der taz von »Rechnerei mit Opferzahlen« und sieht die Einzigartigkeit der NS-Judenverfolgung gefährdet. Harald Welzer erkennt in Goldhagens Buch eine »Simulation einer wissenschaftlichen Analyse, die entschieden gegen den Rechtsstaat und die demokratischen Prinzipien der Gewaltenteilung votiert«. Der Hinweis auf die teilweise tatsächlich erschreckend schlechte Lektorats‑ und Datenqualität (»Millionen Opfer in Bosnien und Kosovo«) schmälert allerdings nicht Anliegen und Argumentationskette Goldhagens, welche unter Vergleichsaspekten wesentlich gehaltvoller ist, als die von Welzer als besseres Substitut für »Schlimmer als Krieg« zur Lektüre empfohlene Studie »Flammender Hass« (München 2004) von Norman Naimark. Für Goldhagens Interventionismus-Plädoyer hat Welzer in seiner Besprechung in der Zeit nicht mehr als eine kurze Polemik übrig und verweist auf einen bereits stattgefundenen »Paradigmenwechsel im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen« der »bereits zur Intervention verpflichtet, wenn die Sicherheit der Bevölkerung eines Landes gefährdet ist« und verbittet sich danach jede weitere Diskussion über ein »misslungenes« Buch. Goldhagen argumentiert jedoch gerade aus dem augenscheinlichen Scheitern dieser Institutionen heraus für die Konstitution einer neuen Form globaler Strukturen zur Prävention eliminatorischer Phänomene. Im Gegensatz zu Welzer fordert Wippermann in seiner Besprechung von »Schlimmer als Krieg« in der Jungle World eine Debatte um Goldhagens Thesen. Angeblich würde Goldhagen sich durch sein komparatives Vorgehen von der Singularität der Shoa verabschieden. Goldhagens simple Feststellung »wir müssen uns mit allen Massenmorden und –eliminierungen (…) befassen und sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede berücksichtigen«, zielt aber genau auf die Falle in der Wippermann gefangen ist. Der Singularitätsbegriff scheint für Wipperman prinzipiell ein analytisches Sprechen über die Shoa zu verhindern, das in aller Konsequenz gar kein Interesse daran haben kann, die Welt so einzurichten, dass auch »nichts Ähnliches« (Adorno) geschehe. Als ob dem Historiker sein Lieblingsspielzeug genommen würde, gesteht er sich in seiner Buchkritik ein, möglicherweise »als 1945 geborener Sohn eines (vermutlichen) deutschen Täters, (…) der sich als Historiker so lange und so intensiv mit ihren Taten beschäftigt hat, einfach zu alt und zu deutsch [zu sein], um mich mit jüngeren und nicht-deutschen Tätern so intensiv zu beschäftigen«. Goldhagen plädiert mit seinem Engagement emphatisch dagegen und weist darauf hin, dass die Shoa als Urbild des Völkermordes auch gar nicht taugt, schlimmer noch im Falle Ruandas sogar noch verhindert habe, von Völkermord zu sprechen: Der damalige UN-Generalsekretär Boutros-Ghali vermisste die Gaskammern.

Wenn Goldhagen Ausführungen zu Shoa an solche zu »Klassenmorden« in der Sowjetunion oder in Kambodscha reiht, wird wie er und auch Kiernan belegen, gezeigt, dass diese mit dem Begriff ‚Klassenmord’ allein schlichtweg nicht begriffen werden können und ebenso Aspekte konstruierter ethnischer Identitäten eine Rolle spielten. Darüber hinaus ist Goldhagens Begriff des Eliminationismus, unter dem tatsächlich von Hiroshima bis zum Kosovo alles gefasst wird, gar nicht rein analytisch gemeint, sondern ein Hilfsbegriff für das politische Unterfangen, einer globalrechtlichen Verankerung der Ächtung des systematischen Menschenmords. Diese würde bei ihrer unwahrscheinlichen Realisierung einen Begriff benötigen, um handlungsfähig zu sein. Dies ist Wippermann entgegenzuhalten, der in der Aneinanderreihung von »so unterschiedlichen Ländern wie Bangladesh, Bosnien, Guatemala, Indonesien, Kenia etc.« eine Aufzählung sieht‚ die mit Klassenmorden, Genoziden oder gar dem Holocaust nun wirklich kaum noch etwas gemein hat. Dass die Verhinderung von Völkermorden, neben den anderen von Goldhagen aufgezählten Maßnahmen (Etablierung eines antieliminatorischen Diskurses, institutionalisierter Schutz globaler Bürger‑ und Menschenrechte, Ersatz der Vereinten Nationen durch einen demokratischen Staatenbund) auch eine Form militärischer Interventionen nötig machen würde, liegt nahe. Und hier ist Wippermanns Verständnis von »Verantwortungsethik« und Diskussionsbereitschaft endgültig überfordert: dieses wäre »völkerrechtswidriges Interventionsrecht« darüber verweigere er sich jeder Diskussion. Die Verteidigung des internationalen Völkerrechts liegt auch Welzer am Herzen, der ebenso wie Wippermann militärischen Interventionismus prinzipiell zum Scheitern verurteilt sieht.

Ersatz und Erweiterung des Begriffs Völkermord durch den des politischen Eliminationismus ermöglicht eine Grundlage interventionistischen Handelns, die weder Volk noch Staatsrecht entlehnt zu sein scheint und auf Basis derer somit nicht zugunsten des Rechtssubjektes ‚Volk‘ interveniert werden würde. Damit könnten laut Goldhagen vielmehr Individualrechte garantieren werden, welche dem Opfer gerade durch seinen spezifischen Opferstatus als Angehöriger eines willkürlichen Opferkollektivs – ungebunden an Volks oder Staatszugehörigkeit – zugeschrieben werden könnten. Die Frage, wie und warum zur Garantie eines solchen Rechtsverhältnisses der »Naturzustand zwischen den Staaten« (Hegel), den auch bisherige Entwicklungen in Internationalem Recht und Weltwirtschaft nicht überwunden haben, sich ausgerechnet zugunsten einer völlig neuen Kategorie globaler Individualrechte verabschieden sollte, wurde Goldhagen mit angemessener Deutlichkeit bisher aber noch nicht gestellt.

Goldhagen macht einen entscheidenden Fehler nicht, den der im Gegensatz zu ihm fast durchweg gelobte Ben Kiernan begeht. Er erklärt nicht seine Kernthese, er vergleicht. Das wird spätestens dann wichtig, wenn es darum geht Besonderheiten und Unterschiede stehen lassen zu können. Deswegen könnte man ihm fast sein apostelhaftes und redundant geschriebenes Buch verzeihen.

Ben Kiernan: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute, München 2009 (Deutsche Verlags-Anstalt DVA), gebunden, 911 S., 49,95 €.

Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg.Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München 2009 (Siedler Verlag), gebunden, 685 S., 29,95 €.

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